beate maria wörz

Im Kontext NSU – Welche Frage stellen Sie?

Konzept für eine bundesweite Plakataktion im öffentlichen Raum

Geplant für ein Jahr | mit wechselnden Fragen auf Werbegroßflächen | in 20 Städten bundesweit

Welche Frage würden Sie formulieren, könnten Sie nur eine einzige in die Öffentlichkeit stellen –
bzw. in welcher Frage läßt sich für Sie das Ungeheuerliche am Geschehen im Zusammenhang
mit der NSU Mordserie am ehesten fassen?



Vor mehr als 6 Jahren erfolgte die Aufdeckung des NSU, der für die wohl größte rassistisch motivierte
Mord- und Anschlagsserie in der Bundesrepublik Deutschland verantwortlich gemacht wird. Untersu-
chungsausschüsse von Bund und den von den Anschlägen betroffenen Ländern und alle Recherchen
warfen und werfen mehr Fragen auf als dass wirklich Antworten gefunden würden.

Als Bürgerin hatte ich selbst seit November 2012 regelmäßig an den Sitzungen des 2. Bundestagsunter-
suchungsausschusses zum NSU teilgenommen, als Künstlerin wollte ich mit diesem Thema arbeiten und
hatte vor mehr als fünf Jahren damit begonnen, Menschen aus den unterschiedlichen Bevölkerungs-
gruppen die eingangs zitierte Frage zu stellen. Ich fragte Menschen, die zu den Betroffenen gehören -
Opfer und deren Angehörige, Politiker aus den Untersuchungsaussschüssen, JournalistInnen, Wissen-
schaftlerInnen und andere an der Aufklärung Arbeitende, Bewohner der Städte, in denen die Morde
und Anschläge geschahen, aber auch Bewohner der unterschiedlichen Aufenthaltsorte des NSU und
weitere Bürger, die sich mit dem Thema befassten.

Mit der Zeit waren so über fünfzig Fragen zusammengekommen. Eine Auswahl dieser Fragen wurde nacheinander, jeweils eine Dekade, also ca. 10 Tage lang, in 20 Städten auf Werbegroßflächen
gezeigt - in den Städten, in denen Morde und Anschläge im Zusammenhang mit dem NSU geschahen,
in den Städten der Untersuchungsausschüsse, aber auch in Städten, in denen das Kern'trio' lebte und
vernetzt war. Eigene Plakate zu verschiedenen Aspekten des Themenkomplexes (z.B. mit den in den Ausschüssen gehörten vielen Varianten des Nicht-Erinnerns, zum Thema Quellenschutz und den Folgen
für die Opfer) bilden eine Klammer für das Gesamtkonzept. Dieses setzt auf Wahrnehmung durch Wieder-
holung und die Tatsache, daß der Mensch erst nach acht–neunmaliger unbewußter Aufnahme etwas
bewußt wahrnimmt. Durch die Positionierung entlang öffentlicher (Transport-) Wege und die Verweildauer
von jeweils einer Dekade, teils auch längeren Zeiträumen ist das gegeben. Ursprünglich für ein ganzes
Jahr geplant, sollte die Arbeit über den Prozess in München hinaus Öffentlichkeit herstellen.
Da sich die Finanzierung des ursprünglichen Konzepts als schwierig erwies, haben wir auch andere
Formen der Sichtbarmachung ausprobiert. Es gab Projektionen der Fragen im öffentlichen Raum und
bei Veranstaltungen in Freiburg i. BR. auf dem Platz der Alten Synagoge, eine Soundcollage mit den
Fragen im Foyer und der Theaterpassage/ Stadttheater Freiburg begleitend zu deren szenischen
Lesungen der 'Prozessprotokolle', im Zusammenhang mit der Performance von 'Blumen für Otello -
Über die Verbrechen von Jena' (Esther Dischereit, İpek İpekçioğlu) im Foyer des Peterhofkellers und
Ann Arbor, Michigan, USA., und in Berlin im Foyer des Gorki Theater Berlin, bei der Ver.di Bundes-
verwaltung u.a.).
Im Rahmen von Ausstellungen entwickelte ich weitere Arbeiten zum Themenkomplex NSU: im Bildungs-
zentrum der Gewerkschaft ver.di in Mosbach ('zeit:en'  2014), für 'Birlikte' in Köln 2014, für die 'Ortstermine
Moabit' 2014 und 2017, in der ver.di Bundesverwaltung in Berlin ('Im Kontext NSU–…'  2017), und zuletzt
meine Ausstellung 'spurensuche/n' im K25 Ausstellungsraum in Luzern/ Schweiz 2018 nahmen das
Thema auf .

Zur Erläuterung: Zwischen September 2000 und April 2007 gab es in der Bundesrepublik Deutschland
Morde an mindestens 10 Menschen und mehrere Bombenanschläge mit vielen Verletzten, die mit dem
Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) in Verbindung gebracht werden. Die Opfer der Morde waren
acht Männer mit türkischem Migrationshintergrund, ein Grieche und eine Polizistin, deren Kollege bei
dem Anschlag lebensgefährlich verletzt wurde. Sie, ihre Angehörigen und die von den Bombenanschlägen
Betroffenen wurden teilweise mehr als zehn Jahre verdächtigt, kriminalisiert und verleumdet, das Vertrauen
innerhalb der Familien beschädigt und in Beziehung zu diesem Staat zerstört. Drei der vermutlichen Täter,
Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, die seit ihrem Untertauchen 1998 auf den Fahnungs-
plakaten der deutschen Polizei standen, konnten 14 Jahre lang unentdeckt in Deutschland leben, Menschen
ermorden, Banken überfallen und Urlaub machen. Viele Momente, die zur frühzeitigen Aufdeckung des
'Trios' hätten führen können, wurden versäumt, Naheliegendes unterlassen, Ermittlungen erschwert und
Vorgänge verdeckt. Nach Jahren Arbeit der Untersuchungsausschüsse in Berlin und anderen Bundes-
ländern, fünf Jahren Prozess in München und vielen weiteren Recherchen von unterschiedlichen
Seiten sind mehr Fragen offen als geklärt und es zeigte sich immer deutlicher, in welchem Ausmaß Unterlassungen von Teilen staatlicher Behörden eine Aufklärung gezielt verhindern sollen.

Die Arbeit will sensibilisieren für diese größte rassistisch motivierte Mord- und Anschlagsserie in der
Geschichte der Bundesrepublik und das, was an gesellschaftlich verankertem Denken und Verhalten
dazu führen konnte, und sie will eine kritische Auseinandersetzung damit befördern. Die Gleichmütigkeit
einer breiten Bevölkerung und ein von staatlichen Behörden getragener Unwille, wirklich aufzuklären,
zeigen, wie zwingend notwendig es ist, daß weiter Aufklärung gefordert wird und eine andere, weiter-
gehende Bewußtseinsbildung in der Bevölkerung und den Behörden stattfindet.

aktualisiert Mai 2018